Journalisten jagen Hirnforscher

Von Ulli Kulke 25. April 2009

Bestens recherchierter Grusel: Jens Johler konstruiert einen Komplott um den freien Willen

Die Gedanken sind frei". Ziemlich genau vor 200 Jahren entstand das Lied, das scheinbar ewige Wahrheiten enthielt über die Vorgänge im menschlichen Hirn: "Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger sie schießen." Es war die hohe Zeit der Aufklärung.

"Die Gedanken sind frei". Nicht nur eine biologische Erkenntnis war damit gemeint, auch ein Anspruch, eine Errungenschaft, Emanzipation gegenüber der Obrigkeit, "denn meine Gedanken / zerreißen die Schranken".

Zwei Jahrhunderte nach Kant hat sich das Rad der Geschichte erneut weitergedreht, ist jetzt dort angekommen, wo die Freiheit der Gedanken in Frage steht. Nur diesmal auf höherer Ebene. Man wird sie nämlich doch lesen können. Bald womöglich schon. Man wird die Gedanken auch schießen können, auch treffen. Jens Johler zeigt in seinem neuen, erregenden Thriller "Kritik der mörderischen Vernunft" in schockierender Weise, was uns die Hirnforschung im frühen 21. Jahrhundert in dieser Hinsicht bescheren, wie sie unsere Köpfe in den Griff bekommen könnte, und wie weit wir dabei schon sind - bestens recherchierter Grusel.

Johlers Buch ist keine Science fiction. Seine Mordfälle geschehen im Hier und Jetzt - mit Sprengstoff, Pistolen und Kopf-Bohrern. Johler holt uns ab beim heutigen Stand der Wissenschaft. Ein Manifest der Hirnforscher wird im Buch als Skandalon aufgebaut. Der freche Titel des Papiers: "Der Freie Wille ist eine Illusion". Manche Wissenschaftler treten da reichlich selbstbewusst auf und auch fantasievoll, wie sie unsere Denkapparate lenken könnten. Alles nur Hirngespinste?

Tatsache ist, dass es so ein Manifest gibt.

Das wirkliche Manifest ist noch lange nicht so weit wie Johlers literarisches. Und doch ist man schon auf halber Strecke: Man werde, so heißt es da, in der Lage sein, "psychische Auffälligkeiten und Fehlentwicklungen, aber auch Verhaltensdispositionen zumindest in ihrer Tendenz vorauszusehen - und 'Gegenmaßnahmen' zu ergreifen". Solche Eingriffe "sind allerdings mit vielen ethischen Fragen verbunden, deren Diskussion in den kommenden Jahren intensiviert werden muss." Sie ist noch nicht da, diese Diskussion, die "Kritik der mörderischen Vernunft" fechtet sie für den Leser schon mal aus: Journalisten jagen Hirnforscher und werden selbst gejagt, von finsteren Mächten.

Als allzu fantastisch muss man die Szene im Buch jedenfalls nicht abtun, wenn dort der Vertreter einer Firma "Braintech" auf einer Tagung für sein Unternehmen wirbt mit den Worten: "Wir sind, wie viele wissen, dabei, einen neuen Magnetresonanztomographen zu entwickeln, der sich wie ein Metalldetektor an Flughäfen aufstellen lässt, um nach gefährlichen Mustern im Gehirn von Passagieren oder Besuchern zu fahnden. Unsere Idee ist es nun, diese Apparate so zu konstruieren, dass sie nicht nur messen, was drin ist, sondern auch darauf Einfluss nehmen".

Längst können Neurologen durch die Vermessung von Hirnströmen feststellen, welche Art von Gedanken wo ablaufen. Längst wissen sie, dass die Hirnregion Amygdala je nach Zustand übermäßige Ängstlichkeit oder Todesmut produziert, dass man durch ihre Stimulierung oder aber völlige Entfernung einen blindwütigen Terroristen in einen Hasenfuß verwandeln könnte oder umgekehrt. In den 30er Jahren schon diskutierte man nach amerikanischen Forschungsergebnissen, ob sich auf diese Weise nicht die Kriminalität bekämpfen ließe. Alles schon mal dagewesen.

Die Beeinflussbarkeit des Gehirns ist Fakt. Die Fähigkeit zum Feintuning ist eine Frage der Zeit, abhängig vom Fortschritt bei der Entwicklung quasi von Lupe und filigranen Instrumenten. Die großen Hirnregionen und ihre Funktionen sind ausgemacht, auch die Vorgänge auf dem Niveau einzelner Zellen verstehen die Neurologen immer besser, beim Verständnis des Geschehens innerhalb von Verbänden von Hunderten oder Tausenden Zellen hapert es noch. So bilanziert es jedenfalls das Manifest der real existierenden Hirnforscher.

Und was wird aus dem "Freien Willen"? Kant, der ihn so sehr hoch hielt, spielt auch in Johlers Buch mit. Auch der Streit darüber, was der alte Immanuel wohl zu seinem Wiedergänger im 21. Jahrhundert und seinen Methoden sagen würde. Dabei ist ja eigentlich alles ganz einfach: Wenn wir davon ausgehen, dass erstens allen Entscheidungen im Kopf chemische oder physikalische Impulse zugrunde liegen, zweitens diese Impulse wiederum natürliche Ursachen haben, und drittens von mehreren alternativen Optionen doch immer nur noch eine Entscheidung getroffen werden kann, dann ist es mit dem freien Willen sowieso nicht weit her. Auch der Mensch und all seine Handlungen sind eingebettet in die universelle Abfolge von Ursache und Wirkung, das Kausalitätsprinzip. Diese deterministische Weltsicht kann nur derjenige ablehnen, der an einen lenkenden Gott mit einer klaren Richtungsvorgabe glaubt. Vielleicht ja auch deswegen wollen die Skrupellosesten - die "Fortschrittlichsten"? - unter Johlers Wissenschaftlern die Religion aus dem Kopf heraus operieren und sich selbst ganz gezielt ins Kausalitätsprinzip in den Hirnen der Menschen einklinken, damit aus ihrer Sicht alles gut werde auf Erden.

Nicht nur die Fortschritte der Hirnforschung deuten dies an, auch das sich hier und da abzeichnende staatliche Begehr. Die Forschungsagentur Darpa des US-Verteidigungsministeriums etwa hatte im Rahmen ihres Programms "Total Information Awareness" (TIA) schon mal die Ausschreibung aufs Gleis gesetzt für ein monströses Vorhaben: "LifeLog". Damit sollten alle Bewegungen aller Menschen, alles, was sich messen ließe erfasst und gespeichert werden. Einstweilen ist das Projekt auf Eis gelegt. Vergessen ist es nicht. Anschließend an die Schlusspointe ist der Grusel noch nicht beendet. Da erklärt der Autor in seinem kurzen Nachwort nämlich noch, wieviel an Realität hier zwischen den Buchdeckeln steckt. Machen wir uns auf einiges gefasst.

Jens Johler: Kritik der mörderischen Vernunft. Ullstein, München. 540 S., 9,95 Euro