Die falsche Warnung der Forscher
Es gibt Menschen und Mächte, die nicht genau wissen sollten, wie das Gehirn funktioniert / Von Jens Johler und Christian Stahl
Erschienen in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.11.2004, Nr. 273, S. 38
Die Kapuze seines Sweaters tief ins Gesicht gezogen, rennt ein Mann gehetzt durch die Dunkelheit. Hamlet Mueller, CIA-Agent, ist auf der Flucht. Er hat den Präsidenten der Vereinigten Staaten ermordet. Wenigstens glaubt er, daß er das getan hat. Ganz sicher ist er sich nicht. Er traut seiner Erinnerung nicht mehr. Er weiß nur noch, daß er zum Schutz des Präsidenten abgestellt war. Und daß ihn dieser irrationale, unerklärliche Haß überfiel, der ihn dazu brachte, seine Pistole auf den Präsidenten zu richten und abzudrücken, wie ferngesteuert. Irgendeine Macht hat das Gedanken-kontrollprogramm fortgeführt. Er ist eines ihrer Opfer. Sie haben ihn programmiert, zum Killer abgerichtet. Er ist ein Schläfer wider Willen ...
Fernsteuerung? Gedankenkontrolle? Gehirnwäsche? Das alles klingt so abstrus und unglaublich, daß unser Verstand sich weigert, ernsthaft darüber nachzudenken. Man hält das für Ausgeburten der Phantasie, für bloße Fiktion, für den Stoff, aus dem die Thriller sind, wie im Film "The Manchurian Candidate" oder die Figur des Agenten Mueller in unserem Roman "Das falsche Rot der Rose". Aber unser Stoff hat seine Wurzeln in der Realität. Die Wissenschaft ist längst dabei, das Rüstzeug dafür zu schaffen, mit dem unsere Gehirne beherrscht, kontrolliert, manipuliert werden können. Mit ein paar feinen Elektroden im Hirn läßt sich eine Ratte fernsteuern wie ein Spielzeugauto. Digitale Neuroprothesen sind in Arbeit, fürs Ohr gibt es sie schon, fürs Auge voraussichtlich in zehn Jahren. Ein Gehirnchip, der es erlaubt, per Gedankenkraft einen Computer zu steuern, sitzt im Kopf des ersten Querschnittsgelähmten und wird bald auch dessen Gliedmaßen steuern. Und die rasende Fahrt geht weiter. Eines - nicht mehr allzu fernen - Tages werden wir vielleicht nicht mehr wissen, ob wir aus eigenem Antrieb handeln oder von einer äußeren Macht ferngesteuert sind.
Das ist, vorläufig, Zukunftsmusik. Aber die Partitur wird bereits geschrieben, und die ersten Arien tönen uns im Ohr. "Es gibt keinen freien Willen", heißt die eine. "Wir brauchen ein neues Menschenbild", die andere. "Es wird ethische Probleme geben", die dritte, und man kann sich denken, wie es weitergeht. Das Bestürzende ist nur: Die Welt hört sich diese Variationen über das Frankensteinmotiv als Unterhaltungskonzert an, und kaum jemand kommt auf die Idee, "halt!" zu rufen. Dabei ist das Ziel der Gedankenkontrolle ja nicht bloß der Phantasie von Drehbuchschreibern und Paranoikern entsprungen. Experimente, die auf die Kontrolle der Gedankenwelt abzielen, sind durchaus nichts Neues.
Schon während des Zweiten Weltkriegs gab es Experimente, mit denen Forscher versuchten, das Bewußtsein zu beherrschen. Deutsche Ärzte verabreichten in Konzentrationslagern Mescalin und andere Drogen an Sinti und Roma, um herauszufinden, welches die ideale Wahrheitsdroge wäre. Das amerikanische "Office for Strategic Services", die Vorläuferorganisation der CIA, unternahm ähnliche Experimente. Nach dem Krieg rekrutierte das OSS führende NS-Ärzte, um sich deren Know-how zu sichern. Die CIA, 1947 gegründet, setzte die Drogenexperimente fort. Die CIA suchte aber nicht nur nach der Wahrheitsdroge, sondern auch nach einer Droge, die zu Gedächtnis-verlust führt, und schließlich sogar nach Mitteln zur perfekten Gehirnwäsche. Das war ja das große Problem bei den geheimen Menschenversuchen: Daß sie auch vor den Opfern geheimgehalten werden mußten, damit diese nicht anfingen, davon zu erzählen. Die Methoden, die im Rahmen von MK Ultra - MK für Mind Control - und ähnlichen Projekten angewandt wurden, umfaßten: die Verabreichung von Alkohol, Heroin, Marihuana und LSD, die Anwendung von Narko-Hypnose oder Elektroschocks und sogar Gehirnchirurgie.
Mitte der Siebziger, in der Folge der Watergate-Affäre, flog die Sache mit den Menschenexperi-menten auf. Zwar vernichtete CIA-Chef Richard Helms den größten Teil der Akten, bevor er seinen Posten als Botschafter in Persien antrat, aber das, was dem Reißwolf entging, reichte immer noch aus, um die Öffentlichkeit zu schockieren. Zwei Untersuchungskommissionen, die Rockefeller- und die Church-Kommission, befaßten sich mit den geheimen Menschenexperimenten, die daraufhin geächtet und verboten wurden.
Die Grundfrage von MK Ultra lautete: "Können wir einen Menschen so weit beeinflussen, daß er unsere Befehle auch gegen seinen Willen ausführt, selbst entgegen tief verwurzelten Instinkten wie dem Selbsterhaltungstrieb?" Das Ziel war klar formuliert, nur die Mittel waren noch unvoll-kommen. Aber die Wissenschaft rastet nicht, sie rast. Was einmal Fortschritt heißen durfte, ähnelt mehr und mehr besinnungsloser Raserei. Einen besonderen Beschleunigungsschub bekam die Bemühung, "das Rätsel des menschlichen Geistes zu lösen", dadurch, daß der amerikanische Kongreß das letzte Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts zur "Dekade der Hirnforschung" ausrief. Seitdem flossen die Forschungsgelder reichlicher, und entsprechend wuchs das Know-how zur Beherrschung des menschlichen Gehirns.
Gerade haben elf führende deutsche Hirnforscher ein "Manifest" veröffentlicht, in dem sie Auskunft geben über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung. Es ist ein strategischer Artikel. Es geht um Forschungsgelder, es geht um eine neu zu schaffende Forschungsdisziplin, die "theoretische Neurobiologie", und es geht darum, die eigene Wissenschaft aufzuwerten und für sie die erste Geige im Konzert der Geistes- und Naturwissenschaften zu reklamieren. Das Manifest skizziert die schöne neue Welt der Zukunft: In nicht allzu weiter Ferne werden wir mit Hilfe der Gehirn-forschung imstande sein, Alzheimer und Parkinson zu heilen; wir werden neue Psychopharmaka für die Behandlung von Schizophrenie und Depressionen entwickeln; wir werden auch Neuroprothesen haben wie eine künstliche Retina und intelligente Ersatzgliedmaßen. Und ebenso werden uns die Forschritte der Hirnforschung "vermehrt in die Lage versetzen, psychische Auffälligkeiten und Fehlentwicklungen, aber auch Verhaltensdispositionen zumindest in ihrer Tendenz vorauszusehen - und ,Gegenmaßnahmen' zu ergreifen".
Hoppla: Warum stehen die Gegenmaßnahmen in dem Manifest in Anführungsstrichen? Was meinen die zwei Damen und neun Herren damit? Gegenmaßnahmen gegen psychische Auffällig-keiten und Fehlentwicklungen, gegen Verhaltensdispositionen? Wie sehen diese aus? Und wer führt sie durch? Der Hinweis der Forscher ist diffus und läßt der Phantasie freien Raum: Ärzte im Dienste der Polizei? Ärzte im Dienste der Geheimdienste? Ärzte im Dienste eines Home-Security-Ministeriums, das sich bemühen wird, eine Verhaltensdisposition zum Terrorismus frühzeitig zu erkennen und "Gegenmaßnahmen" zu ergreifen?
Nein, so weit hergeholt sind diese Beispiele nicht. Wir sind gewarnt durch die Experimente der CIA. Wir werden hellhörig, wenn wir vom sogenannten Neuromarketing hören, bei dem den Versuchspersonen direkt ins Hirn geschaut wird. Du sagst mir, du hast John Kerry gewählt? Das Feuer deiner Neuronen sagt mir aber, du magst George Bush lieber. Doch, diese Versuche gibt es schon. Es gibt sogar den Antrag, die Messung von Gehirnströmen als neue Form des Lügen-detektors bei Gericht zuzulassen. Was es noch nicht gibt, ist der Gehirnscan bei der Einreise nach Amerika: Du sagst mir, du bist gegen Terrorismus? Hier ist ein Bild von Usama Bin Ladin. Das Feuer deiner Neuronen wird mir sagen, ob du mit ihm sympathisierst oder nicht. Und wenn ja, dann werden wir Gegenmaßnahmen ergreifen.
Unsere elf führenden Gehirne sehen diese Gefahr auch: "Solche Eingriffe in das Innenleben, in die Persönlichkeit des Menschen", schreiben sie, "sind allerdings mit vielen ethischen Fragen verbunden, deren Diskussion in den kommenden Jahren intensiviert werden muß." In den kommenden Jahren? Besser sofort! Bevor die Hirnforscher all das können, was sie vorhaben. Zum Beispiel: "Die Hirnforschung wird in absehbarer Zeit ... den Zusammenhang zwischen neuro-elektrischen und neurochemischen Prozessen einerseits und perzeptiven, kognitiven, psychischen und motorischen Leistungen andererseits so weit erklären können, daß Voraussagen über diese Zusammenhänge in beiden Richtungen ... möglich sind." Auf deutsch: Wir schauen uns dein Gehirn an und sagen dir, was du wahrnimmst, denkst, fühlst und tust. Das ist gefährlich. Wenn dieses Wissen einmal in der Welt ist, kann niemand mehr kontrollieren, wer es gegen wen benutzt. Die Vorsicht muß daher früher ansetzen, nicht erst, nachdem vollendete Tatsachen geschaffen wurden.
Das ist nicht wissenschaftsfeindlich. Es gab in den letzten Jahren die ethische Diskussion über embryonale Stammzellen, PID, therapeutisches Klonen und das genetische Design von Tier und Mensch. Der Gedanke, das gescheiterte Projekt des Humanismus durch genetische Verbesserung zu retten, schien immerhin bedenkenswert. Aber im Fall der Hirnforschung geht es nicht um einen Neuentwurf der Spezies Mensch, hier geht es um Kontrolle, Macht, Entmündigung. "In diesem zukünftigen Moment", heißt es im Manifest, "schickt sich unser Gehirn ernsthaft an, sich selbst zu erkennen." Verkenne dich selbst! In Wahrheit geht es durchaus nicht um "wir" und "unser" und darum, daß irgendein Gehirn sich selbst erkennt. Es geht darum, daß Forscher mit Computern, Elektroden, Chips und Drogen sich "in diesem zukünftigen Moment" anschicken, zum Angriff auf unsere Gehirne überzugehen. Und wir, wir Alltagsgehirne, sollen die Forschungsgelder zahlen und im übrigen abwarten und zuschauen und Scheindebatten führen über Menschenbild und Human-wissenschaften und Reduktionismus und darüber, ob sie es wohl "schaffen" oder nicht. Wenn dann die Gedankenkontrolleure von Pentagon und CIA kommen und die richtig schmutzige Arbeit machen, dann werden die elf ihre Hände in Unschuld waschen und sagen: "Wir haben euch doch gewarnt. Wir haben doch damals das Manifest verfaßt. Da stand doch alles schon drin."
Hamlet Mueller, der Held unseres Romans "Das falsche Rot der Rose", hat nur noch ein einziges Ziel. Er muß die Macht finden, die hinter dem Mind-Control-Programm steht. Wer ist es? Die Wissenschaft, die Politik, die Wirtschaft, der Geheimdienst? Gibt es überhaupt ein Zentrum des Bösen? Und während er das denkt, beschleicht ihn ein Verdacht, der ihn taumeln läßt: daß auch diese Gedanken, die er jetzt denkt, von der fremden Macht gesteuert sind. Auch sein Zweifel gehört nicht mehr ihm selbst. Und damit, das sagt ihm die Stimme in seinem Kopf, ist auch der letzte Rest seines Ich ausgelöscht. Hamlet Mueller hat aufgehört zu existieren.
Jens Johler und Christian Stahl sind Schriftsteller und leben in Berlin. Sie haben gemeinsam den kürzlich im Europa-Verlag erschienenen Roman "Das falsche Rot der Rose" verfaßt, einen Thriller über Terrorismus und Neurotechnologie.
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