Hannoversche Allgemeine Zeitung

Feuilleton, Dienstag, 26. Juni 1990

Drei Männer im Schnee von gestern

Theaterdebüt in Kreuzberg: Mit "Zobels Tochter" ins Berliner Biotop

In Berlin muß man sich nicht so oft fragen, warum aus einem nichts geworden ist. Aussteiger und solche, die gar nicht erst einsteigen, finden sich zuhauf. Auch in Jens Johlers Theatererstling "Zobels Tochter", das jetzt  im Kreuzberger "Intimes Theater" uraufgeführt wurde. Ritter, Hansen, Zobel - drei Spätadoleszenten um die vierzig - leben in einer Männer-WG. Der eine sitzt seit Jahren an seiner Doktorarbeit, der zweite an einem Roman. Viel kommt allerdings nicht dabei heraus. Der dritte ist diplomierter Soziologe und fährt Taxi.

Gelegentliche Gefühle des Ungenügens werden durch exzessiven Kinokonsum betäubt. Im übrigen sind diese Alt-68er versiert genug, ihre Erfolgslosigkeit als Nonkonformismus auszulegen. Was zählen schließlich Ruhm und Reichtum, wenn man sich im Besitz des "richtigen Bewußtseins" weiß? Warum immer eine Sache zu Ende führen, argumentiert der glücklose Doktorand, wo es doch "dieses Entscheidungsdenken, dieses Schlußdenken, dieses bedenkenlose Schließen und Ausschließen ist, das die Menschheit an den Abgrund geführt hat".

Andreas Bißmeier, der Star der Aufführung, schwadroniert, was das Zeug hält, spielt das Komische seiner Weltverbessererfigur voll aus und vermag ihr auch das Mitleiderregende zu geben, das hilflose Helfer an sich zu haben pflegen. Mit witztigen Dialogen und viel Situationskomik wird dem Zuschauer ein Berliner Biotop vorgeführt: Intellektuelle und arbeitslose Akademiker, die aus der Studentenbewegung übriggeblieben sind.

Ihre gescheiterten Karrieren können die Protagonisten als gesellschaftliche "Verweigerung" aufwerten, aber daß ihnen die Frau fehlt, läßt sich nicht wegrationalisieren. Doch plötzlich taucht eine auf: Zobels achtzehnjährige Tochter. Sie verkörpert eine neue Generation. Während die Alt-68er noch diskutieren, ob es angeht, wenn Franziska "Frauenarbeit" verrichtet, putzt diese seelenruhig die Fenster, und zwar freiwillig. "Freiwillig oder nicht freiwillig, das ist hier nicht die Frage. Die Frage ist, ob der Mann die Frau unterdrückt", versucht der Dr. phil. in spe seinen "Theoriehorizont" zu retten.

"Bin ich denn Mensch, solange ich Mann bin", ergänzt pflichtschuldig der Romancier die männliche Selbstschelte. Doch diese und andere akademischen Quisquilien lösen sich zunehmend in Wohlgefallen auf - durch die Konfrontation mit dem Leben, das in Gestalt von Zobels Tochter im freiwillig-unfreiwilligen Männerbund seinen Einzug hält. Am Schluß haben zwar Ritter und Hansen das Mädchen nicht erobert, dafür aber ihre Projekte fertiggestellt, mit denen sie Franziska zu gewinnen hofften. Unversehens sind sie dabei ein Stück weit erwachsen geworden und können die nächste Etappe anpeilen: Habilitation, einen neuen Roman, die Gründung eines Taxiunternehmens.

Die Berliner Off-Theater-Szene verfügt mit diesem Boulevardstück aus dem Milieu ewiger Studenten über einen neuen Trumpf. Mit viel Gespür für einen nicht unwesentlichen Aspekt der Lebenswirklichkeit dieser Stadt hat Georg Tryphon die Komödie in Szene gesetzt. Der Wiedererkennungswert für das hiesige Publikum ist groß. Kurz bevor Berlin zu neuer Identität findet, vergewissert es sich in dieser Aufführung noch einmal einer Daseinsform, die in den vergangenen dreißig Jahren typisch für die Stadt war: Nische und Schonraum zu sein für Gestrandete, Tagträumer und mehr oder minder produktive Talente aller Art, die sich hier gegenseitig in der Meinung bestätigen, daß es wichtig sei, Sand und nicht Öl zu sein im Getriebe der Welt.

Tilman Krause

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