Zitty

7/93 (März 93), Lesezeichen

Die Kunst, auf Schildkröten zu treten
"Ein Essen bei Viktoria" von Jens Johler

Die Erzählungen Jens Johlers schildern die seltene Kunst, gepflegt unglücklich zu sein. Mit sanfter  Komödianterie wird der arme Held, der finanziell ein halbwegs reicher Mann ist, durch die hohe Schule des Lebensunsinns geführt.

Ein mißmutiger Gelegenheitsjournalist betritt in London, wo er nicht sein will, das Büro einer Fluggesellschaft, um einen Flug nach Berlin umzubuchen, wohin er nicht zurück will. Zwar wohnt er in Berlin, hatte in London zu tun und sein Aufenthalt hat sich nur verkürzt, weil die Freundin ein paar gemeinsame Tage abgesagt hat, doch trotzdem weiß er weder in London noch in Berlin etwas mit sich anzufangen. Vor Langeweile blättert er in einem Flugplan der British Airways und staunt, in wieviele Städte Flüge angeboten werden. "Nach New York, zum Beispiel, oder nach Colombo, Sidney oder Rio de Janeiro, und noch eine Vielzahl anderer Orte, in denen Menschen lebten und sich irgendwie zu Hause fühlten. Sogar nach Inverness. Merkwürdigerweise landete ich immer wieder bei Inverness. Der Name erinnerte mich an irgend etwas, ich wußte nur nicht mehr an was. Liegt irgendwo in Schottland, dachte ich, eine Menge Schafe, Whisky, Nordseeöl, sonst nichts. Und doch hatte ich mit einem Male die größte Lust, nach Inverness zu fliegen. Warum nicht Inverness, sagte ich zu mir, was spricht dagegen? Inverness - das klingt." Als er zum Schalter gerufen wird, nimmt er seinen Mut zusammen, sieht der Angestellten fest in die Augen und ordert ein Ticket nach Berlin.

Wie das Umbuchen des Fluges verlaufen viel Episoden in Jens Johlers Roman in Erzählungen Ein Essen bei Viktoria. Zufällig entsteht der Gedanke an einen Flug nach Inverness, knüpfen sich Sehnsüchte und Träume an diese Idee, wird ihre Absurdität zum Ausgangspunkt einer Inventur des eigenen Lebens, das, richtig betrachtet, nicht weniger absurd wirkt, so daß ein Flug nach Inverness ebenso vernünftig odder unvernünftig wie ein Flug nach Berlin erscheint. Und dann scheitert der begeistert aufgegriffene Plan doch, setzt sich die Gewohnheit der Disziplin durch. Zwar läßt die Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben jedes andere interessanter und glücklicher erscheinen, aber der Zweifel an der Vergeblichkeit der Bemühungen sitzt zu tief, es fehlen Mut und Zuversicht, um wirklich das andere Flugzeug zu besteigen. Am Ende steht das schmerzliche Lachen über die Komik der Sehnsucht und die Komik der Unzulänglichkeit.

Beiläufig und unauffällig erzählt Jens Johler diese Geschichten, staunend, doch ohne Pathos, mit viel Sinn für Ironie und in einer einfachen, unprätentiösen Sprache, die den Leser durch ihre Nähe zum Alltagsjargon in eine intime Vertraulichkeit hineinzieht. Jens Johler beherrscht eine ganz eigene Form tragikomischen Understatements, die sich eher komödiantischer Elemente bedient, als in britischer Manier einfache Situationen durch übertriebene und affektierte Sprache zu verfremden. Dabei versteht er auch den ernstesten Momenten noch eine so groteske Seite abzugewinnen, daß einem die Sinnsuche des spätbürgerlichen Individuums als ein einziges Narrenspiel erscheint.

Bisher hat Jens Johler zwei Komödien geschrieben, Zobels Tochter und Jetzt oder nie, die 1991 im Hansa-Theater uraufgeführt wurde. Auch Ein Essen bei Viktoria, sein erstes Prosawerk, ist keinesfalls ein bitteres Buch. Ob der Held, ein "jede gute Laune verderbender fast schon Vierziger", sich auf einer USA-Reise mit einem Freund wegen eines Dollars überwirft, ob er in London in jeder zweiten Frau seine Freundin erkennt, der er unter keinen Umständen begegnen will, ob er bei einer Essenseinladung auf eine Schildkröte tritt oder bei einem Verleger unter Schweißausbrüchen leidet, stets gehen die Einbrüche und Desorientierungen mit soviel heimlichem Augenzwinkern und versteckter Lebensfreude einher, daß man die Frage nach dem Sinn des Lebens für eine Anleitung zum Unglücklichsein hält.

Jens Johler verschärft die Orientierungslosigkeit seiner Hauptfigur durch einen Kunstgriff: sein Held ist durch eine Erbschaft finanziell abgesichert und der lästigen Notwendigkeit zur Arbeit enthoben. Umso stärker trifft den Zweifler und Grübler seine Entscheidungsschwäche, niemand setzt ihn unter Druck, kein Arbeitskollege bietet sich zur Abgrenzung, kein Zwang enthebt ihn der Verantwortung. Er kann tun und lassen, was er will, und er kann auch gar nichts tun und lassen. Weder sein eigenes, noch das Leben anderer erfordert seinen entschlossenen Einsatz.

Am deutlichsten wird dieses Dilemma in "Der Geburtstag", der wohl ernsthaftesten, aber auch komischsten der sieben Erzählungen, und der einzigen, die in der dritten Person geschrieben ist. "Ein Jahr noch, dachte Benjamin, ein Jahr lang halte ich noch durch, dann bringe ich mich um. Wenn sich in diesem Jahr nicht alles ändert, bringe ich mich um." Während Benjamin diesen Entschluß langsam vorzieht, weil er sich schließlich genauso gut an diesem wie am nächsten Geburtstag umbringen kann, klingelt ständig das Telefon mit Gratulanten, die Benjamin mit ihren eigenen Sorgen überschütten, so daß er seinen Plan immer wieder aus den Augen verliert. Schließlich macht er aus der Not eine Tugend und beginnt, über seinen Geburtstag zu schreiben. "Warum nicht Inverness, sagte ich zu mir, was spricht dagegen? Inverness - das klingt."

Hans Dieter Heimedahl

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