DIE ZEIT

Nr. 34 20. August 1993

Jens Johlers vergnügliches "Essen bei Victoria"
Normal verrückt

Von Barbara Sichtermann

Erzählen ist ja etwas, was wir alle täglich tun - nur eingefleischte Eremiten kommen ohne aus. Der große Rest hat erst dann seinen Alltag durchlebt, wenn er davon erzählen konnte: irgendwem, zur Not einem Wildfremden.

Diese Art von beliebiger Logorrhö füllt bisweilen Bände und schwemmt den Corpus der zeitgenössischen Literatur auf; zieht man all den Kram ab, bei dessen Lektüre man, peinlich berührt, einer allzu privaten Enthüllung zu lauschen wähnt, bleibt höchstens die Hälfte übrig. Andrerseits tut der epischen Kunst ein Gran jener alltäglich-schwatzhaften Erzählfreude auch wieder gut; so ganz ohne "Stell dir vor, was ich heute erlebt habe"-Gestus geht es doch nicht. Gelungen und wirklich Literatur geworden ist eine Geschichte dann, wenn sie gratwandelnd vom allzu Persönlichen abhebt und dabei doch eine allzu menschliche Bodenhaftung vertraulich babbelnd sichert.

Besonders schwer ist das Wandeln auf diesem Grat bei der sogenannten leichten Literatur. Hier verführt der Charme des Plaudertons zum Trällern, die Übermacht des Alltags zum Flachsinn und die Wonne der Seichtheit zum Plätschern. Will man aber doch Ernst machen als Schriftsteller, eingedenk des Satzes, daß Humor ist, wenn man trotzdem lacht, und daß pro Lacher mindestens eine Katastrophe knapp verfehlt oder eingetreten sein muß, dann geht die Leichtigkeit verloren, das Projekt driftet ab ins Drama, und statt der Heiterkeit gibt's Schwerenot. Es ist bekannt, daß gerade der deutsche Autor Meister im Absturz ist von jenem Grat.

Um so erfreulicher, daß hier mit Jens Johler ein Schriftsteller vorgestellt werden kann, der die Balance beherrscht, ein Erzähler, der "einfach so", nüchtern, schlicht und persönlich von banalen Dingen spricht, meist auch noch in Ich-Form und scheinbar ganz ohne höheren Stil-Willen, der aber wie man bald spürt, wenn man von dieser Prosa gehalten und in ihren Duktus gezogen worden ist, weit genug "abhebt", um jenes wundersame Extra mitzuliefern, das Prosa von privater Enthüllung unterscheidet. Johlers Kunst liegt darin, daß er dieses Extra knapp dosiert, daß er sich nur ein wenig, nur einen Zentimeter weit über den Kneipenquaßler, den Tagebuchschreiber, den durchschnittlich vom Leben enttäuschten Quatschkopp erhebt - nicht moralisch, versteht sich, sondern ästhetisch, nicht in seinem Urteil, sondern in seinen erzählerischen Mitteln - und damit jenes hierzulande seltene Wunder vollbringt, leichte Literatur vorzulegen, die wirklich leicht ist und doch Literatur.

"Ein Essen bei Victoria" führt ins Berlin der achtziger Jahre, in einen Kreis von Freunden und Feinden, die akademischen, künstlerischen oder journalistischen Berufen nachgehen un ihre Jahre zubringen wie ein Geschwätz - und wie alle anderen Leute auch. Der Ich-Erzähler ist freischwebender Melancholiker, er möchte "schreiben", muß sich aber nicht durchsetzen, denn er ist vermögend und der Geldsorgen ledig. Dafür  peinigen ihn alle anderen Nöte, die unsre unvollkommene Welt verhängen mag, vom "Letzte Zigarette"-Krampf bis zum Lebensüberdruß, vom Schwitzfleck auf dem T-Shirt bis zum Liebeselend, vom nächtlichen Völlegfühl bis zum Weltekel. Alle knapp verfehlten oder auch eingetretenen Katastrophen sind von geringfügigem bis mittelschwerem Kaliber - und sie sind immer Material für leichte, komische Geschichten, in denen weder das Gute noch das Böse siegt, sondern die Lust am Wiedererzählen banaler Begebenheiten.

Das bedeutet natürlich, daß im Banalen allerlei los sein muß. In der Tat, wir wissen aus den Künsten, daß der vertraute Alltag die Illusion ist, hinter welcher ein Pandämonium menschlicher Teufeleien und Aberwitzigkeiten wütet. Je näher - in der Literatur - dieser Aberwitz der illusionären Normalität verwandt bleibt, desto wirksamer die komische Enthüllungskunst. Johlers Personenkreis ist geradezu betäubend normal, aber wenn diese Leutchen Gelegenheit erhalten, ihre Sicht der Dinge erschöpfend darzulegen, zerplatzt die Illusion in einen "Staubsturm der Phantasmen". Das dabei entstehende Explosionsgeräusch ist Lachen.

Der Verlag nennt die Neuerscheinung "Roman in Erzählungen", was keine glückliche Entscheidung ist, denn das riecht nach Etikettenschwindel. Es handelt sich bei Johlers Buch weder um einen Band unverbundener Erzählungen noch um einen Roman, sondern um die erneuerte Form der erzählten Serie oder des novellistischen Kranzes. Jedes Stück kann für sich stehen, aber in der Summe ergeben sie eine runde Sache. Zumal sie alle durch einen besonderen Spaß verknüpft sind, den man hochgestochen "Selbstreferenz" nennt und der hier bedeuten soll, daß der Autor beim Schreiben auch immer übers Schreiben und vor allem übers Verlegt-Werden spricht. So ist die Geschichte "Der Geburtstag" Gegenstand einer Reise und einer Verhandlung, aus welcher wieder eine neue Geschichte: "Beim Verleger", entsteht, und diese Geschichte bietet Anlaß für eine Einladung, auf der sie vorgelesen und zum Stoff wird für das Stück: "Zu Gast bei Charlotte B." und so weiter. Die Klagen ferner von Erasmus, dem Verleger und anderen, sie würden von Johler "unsympathisch" geschildert, der Aufstand der Personen gegen ihren Autor, durchziehen das Buch als grummelnde Fußnoten, als hilfloser Einwand des "Lebens" gegen seine Herrichtung zum Stoff. So bildet die "Selbstreferenz" eine Schleife, die den "Kranz" schmückt und zusammenhält.

"Ein Essen bei Victoria" erfreut durch wahre Leichtigkeit, durch normal-verrückte Charaktere und durch eine Sprache, die so lebhaft ist wie die gesprochene und doch so ausgebufft wie die geschliffene, die geschriebene. Das Buch erfreut, weil es die Lesenden daran erinnert, wie alles Erzählen anfing: als Bericht vom Tage, an dem erst dann etwas geschehen ist, wenn es wiedererzählt, also betrachtet und zum Stoff gemodelt wurde.   

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